"Immer wieder eine Grenze überschreiten"

Seit mehr als 40 Jahren lebt und arbeitet der Grafiker Jürgen Pieplow in Wedel. Seine Wahlheimat taucht in seiner Arbeit immer mal wieder auf – bekannt ist sein unverwechselbarer Strich aber im ganzen „gesamtnorddeutschen“ Raum und im südlichen Jütland

"Mehr denn je“, so sagt er, bekommt er Anfragen für Auftragsarbeiten. Diese Anfragen kommen vor allem aus dem Bereich der Tourismusförderung, in den der Wahl-Wedeler Illustrator und Grafiker Jürgen Pieplow schon vor mehr als 30 Jahren eingestiegen ist. Unüberseh- und unüberschaubar ist die Zahl der Rad- und Fußwanderkarten, kulturhistorischen Routen-Vorschläge, historischen Stadtpläne, „Schatzkarten“, Flyer und Broschüren, die in dieser Zeit entstanden ist. Ihre charakteristische Anlage aus umfassender, selbst recherchierter Information und präziser Kartierung, in der die wiederum so typische Mischung von drei- und zweidimensionalen Illustrationen auftaucht, hat sie schon für viele Ortsfremde wie für Alteingesessene zu verlässlichen Begleitern auf eigenen Streifzügen gemacht. Alles nur Gebrauchsgrafik? Arbeit für den Unterhalt? Für Jürgen Pieplow muss schon noch etwas mehr dahinter stecken.

Pieplow, 1935 geboren, hat als Kind die NS-Zeit und das Kriegsende in seiner Geburtsstadt Rostock erlebt. Nach dem Abitur begann er dort, mit dem Zeichnen und Gestalten sein Geld zu verdienen – aber studieren durfte er in seinem deutschen Staat nicht. Weil die Grenze seinerzeit noch durchlässig war, erkundigte er sich in West-Berlin nach den Möglichkeiten eines Studiums. An der Hochschule für Bildende Künste traf er dabei so manchen, den es ebenfalls aus der DDR hierhin verschlagen hatte. „Ich bin also nicht der Einzige, der diese Begrenzung erlebt“, dachte er sich – und blieb 1956 als „Republikflüchtling“ endgültig auf dieser Seite der Grenze. Sein Weg führte ihn von dort nach Hamburg, wo er nach 1962 als Verlags-Werbegrafiker, Illustrator und Art Director tätig war. „Eine gewisse Ruhelosigkeit“ ließ ihn bald nach neuen Aufgaben und Ausdrucksmöglichkeiten suchen. Nach den Jahren im Springer- und im Jahreszeiten-Verlag sowie einer Zeit mit Auftragsarbeiten und einer festen Tätigkeit für „Aktion Sühnezeichen“ wagte er in den späten 70er Jahren den Schritt in die Selbstständigkeit. „Und ich würde das immer wieder so machen“, sagt er im Blick zurück.

Anfragen für Illustrationen ereilten ihn in diesen Jahren aus ganz Deutschland. In Wedel machte er zuerst durch die „Rad + Fußwanderkarte Haseldorfer Marsch“, die Ur-Version aller Karten seither, und die Stadtinfo-Broschüre „Wedel (Holstein)“ aus dem Jahr 1980 auf sich aufmerksam. Sie stehen ganz am Anfang der Zeit, die Pieplow seither der Tourismusförderung gewidmet hat. Seine Wurzeln hat er nie vergessen: „Wann immer es ging, bin ich in all diesen Jahren in die DDR hinübergefahren, um die Verbindung zur Heimat nicht zu verlieren“, erzählt er. Bei diesen Besuchen hat er dann – vor allem in Rostock – gemerkt, dass der andere deutsche Staat auch seinerseits an ihm interessiert war und den Kontakt gesucht hat. Ihm war klar, was dieses Interesse zu bedeuten hatte, aber er hat nie darüber gesprochen, um die Möglichkeit, immer wieder mal zurückzukehren, nicht zu gefährden. Als es möglich war, hat er dann nach dem Ende der DDR in der Stasi-Unterlagenbehörde (in deren Zeit unter Marianne Birthler) die Einsicht in ihn betreffende Akten beantragt – und bei der Durchsicht die eine oder andere Überraschung erlebt. Nach 1990 hat er in wachsendem Umfang seine Erlebnisse und Gedanken aus der Zeit vor der so genannten Wende und dann auch die Erfahrungen aus dem Studium seiner Akte in seine Aufklärungsarbeit, sprich Ausstellungsprojekte integriert.

Hier kommen also wieder die Grenze und ihre Überwindung als Motivation für die eigene Arbeit ins Spiel. Hatte er, um studieren zu können, die erste Grenze überwunden, hatte er am Ende der angestellten Berufstätigkeit mit dem Schritt in die Selbstständigkeit die zweite Grenze überquert, hatte er immer wieder die Verbindung zur Heimat gesucht, so wurde ihm aus diesem Ost-West-Lebenslauf nun wieder ein Projekt: die  Ausstellung „Stasi im Ostseeraum“, die seit 2003 auf 13 Schautafeln über die Mechanismen und Maßnahmen des Überwachungsstaates und die Reaktionen seiner Einwohner darauf  informiert. Zustande gekommen ist diese Ausstellung, weil Pieplow den Kontakt mit dem Rostocker Leiter der Unterlagen-Behörde gesucht hat und ihn davon überzeugen konnte, dass die Behörde eine sehr viel offensivere Öffentlichkeitsarbeit machen und umfassend über den Unrechtsstaat aufklären sollte. Seit der Premiere in Bad Doberan war diese Ausstellung in rund 40 Orten – und vor zwei Jahren auch in Wedel – zu sehen. Dass die Ausstellung, recherchiert in Rostock und Umgebung, in technischer Hinsicht bei einem Dienstleister in Wedel entstanden ist, ist eine schöne Vignette in ost-westlicher Hinsicht.

Grenzen – und ihre Überwindung – tauchen in seinem Werk noch öfter auf. Bekannt ist Pieplow in Wedel vor allem wegen seines Buches „Von Jütland an die Elbe“ aus den frühen 80er Jahren, das den Ochsenweg und seine jahrhundertelange Geschichte abschreitend nacherzählt. „Ursprünglich war das ein ganz anderes Projekt“, erzählt er im Blick zurück mit einem Schmunzeln, „denn es gibt ja nicht nur eine bewegte Vergangenheit rund um die Königsau und eine Verbindung zwischen Jütland und Wedel, sondern auch eine zwischen Gedser und Warnemünde. Das wollte ich eigentlich machen, aber vielleicht war die Zeit dafür damals noch nicht reif. Jedenfalls liefen die Gespräche mit dem Wachholtz-Verlag dann auf eine Erkundung des Ochsenwegs hinaus und ich musste das Projekt in Windeseile zusammenstellen.“ 

 

Man muss gar nicht den Lebensweg von Jürgen Pieplow hinter sich haben, um dieses Interesse an Grenzen zu verstehen: „Auf beiden Seiten einer Grenze gibt es Vorurteile, und weil ich selbst ein Grenzgeschädigter durch Krieg bin, halte ich es für wichtig, dass die Menschen diesseits und jenseits noch viel mehr über einander erfahren.“ Das hat Pieplow Mitte der 80er Jahre formuliert, sicherlich im Hinblick auf die innerdeutsche Grenze und seine jahrzehntelangen Kontakte nach Polen und auf seinen eigenen Lebenslauf. Aber es gilt doch auch in dem metaphorischen Sinn, der Weiterentwicklung und Wissensaneignung – für sich selbst und für andere – überhaupt erst möglich macht. (Carsten Dürkob, Mai 2012)

Jürgen Pieplow
Geb. 1935 in Rostock, 1956 – 1961 Studium an der Hochschule für Bildende Künste in Berlin. Ab 1962 Grafiker in Hamburger Verlagen, freier Mitarbeiter in Werbeagenturen. Reisen durch die meisten europäischen Länder. Seit 1969 wohnhaft in Wedel.
Seit 1979 Arbeitsschwerpunkte in Buchgestaltung, Illustration, historischer Dokumentation. Jüngste Publikation ist die 3. Auflage der „Schatzkarte Wedeler, Seestermüher und Haseldorfer Marsch“, erhältlich im Buchhandel.
Ausstellungen und Ausstellungsbeteiligungen in der Bundesrepublik Deutschland, der DDR, Dänemark und Polen, u.a. 2001 „undervejs“ zur Wegegeschichte zwischen Jütland und Schleswig-Holstein, 2003 „Stasi im Ostseeraum“ und mehrfach zum Thema NS-Verbrechen.
Wer Jürgen Pieplows Atelierpraxis kennenlernen möchte, ist – nach Anmeldung, Telefon 04103 6443 – herzlich willkommen im Haus Mühlenstraße 23 (Eingang vom Hof).