Otto Stock - "Hauptsache, für den Menschen"

Ein Wedeler Ur-Gestein in SPD und AWO: Otto Stock. Foto: Dürkob
Ein Wedeler Ur-Gestein in SPD und AWO: Otto Stock. Foto: Dürkob, Otto Stock
Otto Stock (rechts) lagen Senioren immer am Herzen. Hier ist er mit dem viel zu früh verstorbenen Bürgervorsteher Joachim Reinke dessen Frau Gudrun Reinke und  Jens  Vollert, damals ASB-Vorsitzender nach einem Gespräch über Pläne zum Neubau des Heinr
Otto Stock (rechts) lagen Senioren immer am Herzen. Hier ist er mit dem viel zu früh verstorbenen Bürgervorsteher Joachim Reinke dessen Frau Gudrun Reinke und Jens Vollert, damals ASB-Vorsitzender nach einem Gespräch über Pläne zum Neubau des Heinrich-Gau-Heimes abgelichtet. Foto:…

In mehr als vier Jahrzehnten engagierte er sich insbesondere im sozialen Bereich - Carsten Dürkob portraitiert den Mann mit dem großen Herzen

Wenn Otto Stock ins Erzählen kommt, findet er so schnell kein Ende. Das liegt nicht etwa daran, dass er geschwätzig wäre. Nein, er hat einfach viel erlebt, viel bewegt, und er kann all dem im Blick zurück einen Rahmen geben. Denn für ihn hat sich immer eines aus dem anderen ergeben.

In Wedel ist bestens bekannt, was er seit 1966 alles angestoßen, eingeführt und umgesetzt hat: Sein Leben in diesen gut vier Jahrzehnten ist durch viele Ehrenamtstätigkeiten und noch mehr Zeitungsberichte umfangreich dokumentiert. Erinnert sei nur an die wichtigsten Daten: Als Otto Stock und seine Frau Anita – die er 1949 kennengelernt und 1955 geheiratet hat – 1966 nach Wedel kamen, war er bereits seit mehr als einem Jahrzehnt Mitglied der Arbeiterwohlfahrt (AWO) und der SPD. Zunächst nur im Elternbeirat der ABC-Schule tätig, engagierte er sich ab 1968 als bürgerliches Mitglied in der SPD und in verschiedenen parteiinternen Funktionen, zwischen 1970 und 1974 auch als Ratsherr. 1971 fand er zur Wedeler AWO: Er bereicherte die Arbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtsverbände mit seinen Ideen und gemeinsam mit Hanna Lucas organisierte er das Angebot „Essen auf Rädern“. Der AWO-Ortsverein vertraute ihm nach und nach diverse Funktionen an, aber seine Kraft und sein Elan reichen, um auch noch für den Kreisverband der AWO und im Landesschulelternbeirat tätig zu sein. Nach Eintritt in den Ruhestand übernahm er für einige Jahre die Leitung des AWO-Ortsvereins und war weiter für den Landesverband tätig. Als er im Januar 1998 ankündigte, nicht mehr für den Vorsitz der Wedeler AWO zur Verfügung zu stehen, sagte der damalige Bürgervorsteher Joachim Reinke (SPD): „Otto Stock in Pension, das ist ein Gedanke, den man gar nicht zu Ende denken mag.“

Wer Otto Stock nun fragt, wie er das alles hat bewältigen können, bekommt zwei Antworten: „Meine Frau Anita hat mir immer den Rücken gestärkt“, sagt er mit einem zärtlichen Blick auf sie, die bei unserem Gespräch dabei ist, und „Was haben wir für ein Glück!“ ergänzt er. Hat sie ihn bei alledem nicht vielleicht doch gelegentlich für verrückt erklärt? „Und ob“, sagt sie mit fröhlichem Lachen, „aber ich hab‘ ihn machen lassen, er hätte es ja ohnehin getan.“ Um dann nachzuschieben: „Es ist ja auch nicht so, dass ich ihn nicht verstanden hätte.“ Otto Stocks zweite Antwort scheint auf den ersten Blick nichts mit der ersten zu tun zu haben: „Es hat sich immer eins aus dem anderen ergeben. Wenn man irgendwo einsteigt und seine Sache vernünftig macht, wird man natürlich auch bald gefragt, ob man nicht noch dieses oder jenes tun könne. Und man selbst merkt: Wenn ich in dieser oder jener Sache etwas erreichen will, muss ich eben auch hier und da noch aktiv werden.“

Die Quelle dieser Einsatzfreude, die immer das Wohl des Mitmenschen im Auge hat, liegt lange zurück. 1928 geboren, wird er nach dem Schulabschluss mit der Mittleren Reife 1944 zur Wehrmacht eingezogen. „Ich war beim Jungvolk, bei der HJ, freiwillig wohlgemerkt, und ab 1943 musste ich in St. Georg Häuser nach niedergegangenen Brandbomben absuchen. Da bin  ich auf manchen Boden mit Muffensausen gegangen.“ Im Kriegseinsatz wird er verletzt, nach Magdeburg zurückverlegt. „Aber das Kind dachte: Hier kann ich mich nicht wehren“, erzählt er – also geht er wieder an die Front. Im April 1945 gerät er in russische Kriegsgefangenschaft, muss im Treck etliche hundert Kilometer bis nach Kiew zurücklegen. „Wir kamen mitten im heißen Sommer an und mussten gleich anfangen, Steine zu behauen für den Wiederaufbau.“ Nach kurzer Zeit gelingt ihm und zwei Kameraden die Flucht aus dem Lager. Warum die russischen Soldaten das Trio nicht aufgegriffen und zurückgebracht haben? „Die haben bestimmt gesucht. Aber wir sind 500 Kilometer in die falsche Richtung gelaufen, weiter nach Osten. Aber wir waren frei.“ Das Wort hat fortan eine besondere Bedeutung für ihn.

Also drehen sie um und umgehen Kiew in weitem Bogen. Die Flucht kommt nach mehr als 18 Monaten und der Überwindung mehrerer Grenzen 1947 mit der Rückkehr nach Hamburg an ihr glückliches Ende, aber die Bilder dieser Jahre bleiben ihm. Nach einem Aufenthalt im Reservelazarett findet er 1948 die elterliche Wohnung vollgestopft mit Flüchtlingen – aber Hauptsache zurück! Er nimmt eine Ausbildung zum Elektroinstallateur auf und schließt sie 1951 ab, dann sattelt er um und wird Chemiewerker bei der Hamburger Firma Linde. Auch diese Ausbildung schließt er ab. Es wird später auch die Firma Linde sein, deretwegen er den Weg nach Wedel findet.

In all dieser Zeit vergisst er seine Erlebnisse und Erfahrungen nicht. Weitere Erlebnisse im Familienkreis lassen den Gedanken in ihm reifen: „Ich will helfen, ich will etwas verändern, im Großen wie im Kleinen.“ Er findet zur AWO, weil eine Nachbarin 1953 in Hamburg-Winterhude so eifrig auf ihn einredet, und bald darauf auch zur SPD. „Was haben wir uns damals über die Wiederbewaffnung aufgeregt. Die war ja lange erkennbar, bevor sie kam. Eiserner Vorhang, Kalter Krieg – das ging gegen alles, was ich bis dahin erlebt hatte.“ Wie kann man sich also einsetzen? „Helfen, engagieren, egal wo, Hauptsache: für den Menschen. Und Hauptsache: Es wird gemacht.“ Der ehrenamtliche Werdegang beginnt im Schulelternbeirat und schnell stellt er fest: „Wenn ich Dinge verändern wollte, die mir nicht gefielen, musste ich wohl auch in die Politik gehen.“ So kommt schließlich in den 60er Jahren schnell eines zum anderen und ein Ehrenamt zum nächsten. In seiner Einstellung sieht er sich da nah bei der immer noch aktiven Ursula Kissig, seit Jahrzehnten Zweite Vorsitzende des Wedeler DRK.

Aber es sind vor allem die kleinen Erlebnisse, die ihn über alle Jahre hinweg das Ziel nicht aus den Augen verlieren lassen. „Auf dem Treck nach Kiew haben wir gesehen, wie aus einem Wagen des uns entgegenkommenden Flüchtlingstrecks eine tote Frau herausgeworfen wurde. Das war bestimmt die Großmutter. Und sie hatten keine Zeit, sie zu bestatten. Die Soldaten hätten das sicherlich sofort verhindert, wenn der Wagen hätte anhalten wollen.“ Neben allem Grauen des Krieges sind es solche Erlebnisse, die dem jungen Mann an die Seele gehen. Jahrzehnte später erlebt er bei der AWO die Dankbarkeit von Seniorinnen, die sich einen Besuch in einem Café nicht leisten können und deshalb gern mal das Angebot der AWO zu einem Kaffee-und-Kuchen-Nachmittag nutzen. „Die haben die AWO als ihre Gute Stube betrachtet. Die sind vorher zum Friseur gegangen“, weiß er. In solchen Augenblicken spürt er, was der unermüdliche ehrenamtliche Einsatz für andere bedeutet.

Natürlich ändern sich über die Jahre nicht nur die Organisationsformen der Arbeit bei der AWO, sondern es ändert sich auch das Publikum. Als er endgültig aussteigt, weiß er, was er geleistet hat. Seither hat er sich immer mal wieder in Schulen als Zeitzeuge zur Verfügung gestellt. Ferner und ferner rücken heutigen Schülern, die keinen Krieg erlebt haben und nie in Gefahr waren, seine Erlebnisse trotz anschaulicher Schilderung – schließlich ist Stock mittlerweile 84, während er seine prägenden Eindrücke als 17-, 18-, 19-Jähriger bekam. Was er trotzdem vermitteln könne? „Was man anpackt, sollte man auch richtig machen. Man steckt nicht nur viel rein, sondern bekommt auch viel.“ Und dass ihn die Antrittsrede des neuen Bundespräsidenten Joachim Gauck mit seiner Betonung der Freiheit beeindruckt hat, ist kein Wunder: „Freiheit ist das höchste“, hat er gelernt. Dazu gehöre auch, dass man seine Rechte wahrnehme, wenn man zu einer Organisation gehöre. Und sei es das Wahlrecht im Verein.

„Aufrecht“ ist das Wort, das einem zu Otto Stock einfällt. Wer ihn erst erzählen und dann sagen hört: „Wir haben doch ein schönes Leben gehabt, aber das lag an uns beiden“ – der glaubt es auch. (Carsten Dürkob, April 2012)