Ans Licht gezerrt

Kuriose, nachdenkliche und traurige Geschichte[n] aus dem Stadtarchiv Wedel

Der Fall Simon

Das Trauzimmer 1937 mit dem Standesbeamten Rohwedder

Im Oktober 1937 nahm der 25-jährige Gärtnergehilfe Paul Simon all seinen Mut zusammen. Seit gut einem Jahr wohnte der junge Mann aus Leipzig nun bereits in der Schillerstraße 26 und hatte sich unsterblich in die 22-jährige Anna Maria Kunst aus der Feldstraße 27 verknallt. Und nun wollte er Nägeln mit Köpfen mache, schnappte sich seine Braut und marschierte ins Wedeler Rathaus. Dort wurde dem Beamten Jürgen Wilhelm Rohwedder, als Vertreter des Standesbeamten der Wunsch nach einer Eheschließung mitgeteilt. Dieser nahm alle erforderlichen Daten auf, schrieb das Aufgebot und hängte dies vom 23. Oktober an 14 Tage in den Aushangkasten des Rathauses.

Dann aber kamen die Zweifel. Nicht dem Bräutigam, sondern dem Standesbeamten Karl Hinz. Wie der Zufall es wollte, hatte dieser nämlich drei Tage nachdem die Verlobten im Standesamt das Aufgebot bestellt hatten, eine Schulung der Standesbeamten des Kreises Pinneberg in Elmshorn besucht. Und dort stellte er dem Referenten den „Fall Simon“ aus Wedel dar.

Bevor wir der Frage nachgehen, warum das Brautpaar zunächst nicht getraut wurde, werfen wir zunächst einen Blick auf den maßgeblich verantwortlichen Standesbeamten Karl Hinz. Karl Wilhelm Eduard Hinz war zwar 1900 in Kiel als Sohn eines Maurers geboren, aber seine Kindheit verbrachte er bereits in Wedel. Der Lehrer Schultz regte den 15-jährigen an, eine Bürolehre in der Stadtverwaltung zu machen. Wenige Jahre später, 1922 wurde er zum Steuerassistenten ernannt. Ein Jahr später heiratete er Janneke Bassiner. 1928 absolvierte Hinz einen Kursus an der Verwaltungsbeamtenschule, konnte aber die Prüfung nur mit der Note „ausreichend“ bestehen. Auch gesundheitlich geht es ihm nicht so sehr gut, da er ein immer wiederkehrendes Augenleiden hat. Die Ausübung seines Dienstes im Steueramt fordert ihn. So meldet er sich mit Schreiben vom 21.01.1929 krank: „Wegen übermäßiger Kopfschmerzen und Schlaflosigkeit während der ganzen letzten Nacht, hervorgerufen durch bei der Lustbarkeitssteuerkontrolle festgestellte Übertretungen und der damit zusammenhängenden Auseinandersetzung mit dem Veranstalter, fühlte ich mich heute morgen nicht dienstfähig.“

Dennoch fühlt sich Hinz zu Höherem berufen. Und er versucht, nach dem überraschenden und tragischen Tode des Oberstadtsekretärs und Büroleitenden Beamten Otto Heinrich Wilhelm (ihm war beim Holzhacken ein Splitter ins Gesicht gefahren und es hat sich daraus eine Blutvergiftung eingestellt) am 26.07.1933 auf dessen Stelle zu rücken. Denn mittlerweile war „eine neue Zeit angebrochen“. Hinz hatte sich in der Ortsgruppe der NSDAP einen Namen gemacht und versuchte sich beim jungen neuen Bürgermeister Dr. Harald Ladwig unentbehrlich zu machen. Da er aber die geforderten Leistungen nicht erbringen konnte, wurde er verwarnt. Und es wurde ihm zudem mit Gustav Maushake ein neuer Büroleitender Beamter vor die Nase gesetzt.

Ob sich Hinz mit der Meldung an den Referenten beim Seminar nur wichtigmachen wollte, oder ob er tatsächlich Zweifel an den Angaben des 25-jährigen Leipziger Bräutigam hatte, kann nicht mehr ermittelt werden. Aktenkundig aber ist ein Brief des komm. Bürgermeisters Jessen an den Landrat nach Pinneberg vom September 1945. Hier bittet er diesen darum, Hinz in ein Amt außerhalb des Kreises Pinneberg zu versetzten, da dieser in der Bevölkerung stark umstritten sei. Die Bürger würden ihm sein „angeblich aktives, von Gehässigkeiten nicht freies nationalsozialistisches Auftreten“ verübeln. Hinz wird daraufhin zum Dezember 1945 entlassen. Nach dem Änderungsgesetz zum Entnazifizierungsgesetz zum März 1951 aber musste erneut in der Stadtverwaltung zum Beamten ernannt werden. Er blieb dann bis zum Renteneintritt am 31.12.1962 in städtischen Diensten.

Zurück zum Jahr 1937 zu Paul Simon. Dieser fiel vermutlich aus allen Wolken, als ihm das Standesamt mitteilte, dass keine Trauung vorgenommen werden würde, bevor der Bräutigam nicht einen „ordentlichen Abstammungsnachweis“ erbringen könnte. Den Aufschlag zu einer langen Wartezeit machte der Standesbeamte Hinz mit einem Schreiben an die Reichsstelle für Sippenforschung in Berlin. Seine Zweifel über die Abstammung des unehelich geborenen Gärtnergehilfe Paul Simon begründete er wie folgt: „Gegen die deutschblütige Abstammung der Mutter, die als Fotografin am Theater und als Schauspielerin tätig war, bestehen keine Bedenken. … Wegen des Vorhandenseins von pechschwarzem, lockigem Haar und tiefbrauner Augen habe ich hiergegen jedoch Bedenken.“ Für den Bräutigam bedeutete dies, dass er ab Januar 1938 zahlreiche Fragen beantworten musste, weitere Unterlagen einzureichen und verschiedene Lichtbilder abzugeben hatte. Der „Lebenswandel der Mutter sei nicht einwandfrei gewesen“ lautete die Beweisführung. So hätte es 1912 eine Vaterschaftsfeststellungsklage gegen den jüdischen Zahntechniker Paul Zuckermann gegeben, der aber „wegen Mehrverkehrs der Mutter“ auch mit „deutschblütigen Männern“ abgewiesen wurde. Erst am 26.04.1941 und nach einer aufwändigen erb- und rassekundlichen Untersuchung von Paul Simon im Berliner Anthropologischen Institut kam die Behörde in Berlin zum Ende ihrer Prüfung. Und sie bescheinigten Paul Simon seine „Deutschblütigkeit“. Daraufhin konnte die Ehe dann am 31. Mai 1941 nach einer bald 4-jährigen Wartezeit endlich geschlossen werden. Nach dem Kriege waren die Umstände der verspäteten Eheschließung Gegenstand in einem Wiedergutmachungsverfahren, dass das Ehepaar angestrebt hatte. Dafür musste eine Abschrift des Abstammungsbescheides im Rathaus in Wedel beglaubigt werden. Und wie der Zufall es will: Der Beamte, der dies Dokument beurkundet hat, war kein anderer als Karl Hinz.

Identitätsdiebstahl?

Man könnte denken, Identitätsdiebstahl wäre eine Erfindung der heutigen Zeit. Aber nein, wir kennen zahlreiche Fälle auch in der Geschichte. So zum Beispiel das Leben von Anna Anderson, die angab, sie sei eigentlich die verstorbene Anastasia von Russland. Auch manch Hochstapler versuchte sich daran, mit Geschichten, anderen einen Bären aufzubinden, um daraus einen Vorteil zu erlangen. Den nachstehenden Personen, die aus den Wedeler Urkundenbüchern ans Licht gelangen, ging es vermutlich nur darum, ihren Ruf zu wahren. Lesen Sie selbst.

Am 16.11.1912 geht der Ingenieur Johann Heinrich Konrad Döhrmann zum Wedeler Bürgermeister und zeigt die Geburt seiner Tochter Dora Irma an. Die Mutter, so führt er an, wäre seine Ehefrau Auguste Döhrmann geb. Siemsen. Gemeinsam mit ihr hätte er bereits einen Sohn, Helmer Theodor, der am 26.02.1911 in Stockholm geboren wurde. Mit diesen Angaben lügt er den Bürgermeister an. Denn die Dame im Kindbett ist gar nicht seine Ehefrau. Knappe 10 Jahre später, als Chemiker ist Döhrmann mittlerweile in Rostock beschäftigt, fällt ihm seine Aussage vor die Füße. Vor dem dortigen Vormundschaftsgericht muss er zugeben, dass die Mutter dieser Kinder Ida Rehder aus Pölchow ist, mit der er seit Jahren in wilder Ehe lebt. Von seiner Ehefrau lebt er bereits seit 1894 getrennt und weiß auch nicht, ob diese überhaupt noch lebt. Das Standesamt Wedel berichtigt zum 17.02.1922 den Geburtseintrag. Ein knappes Jahr später trägt Bürgermeister Eggers einen weiteren Randvermerk ein: die Eheschließung von Johann Heinrich Konrad Döhrmann mit Ida Marie Sophia Rehder. Geht doch!

Ein weiter skurriler Fall steht bei einem Geburtseintrag im April 1913. Hier kommt der Arbeiter Karl Hartmann, wohnhaft in der Elbstraße 31 zum Bürgermeister und Standesbeamten und meldet, dass seine Ehefrau Marie Hartmann geb. Skurzewska eine Tochter bekommen hat, die den Namen Olga Gertrud erhalten soll. 30 Jahre später trägt der Standesbeamte die Berichtigung zur Urkunde dazu: Die Kindesmutter sei eigentlich die Haushälterin Olga Guse gewesen, die nunmehr in Aumund wohnt. Und weitere sechs Jahre später wird vermerkt, dass die angegebene Kindesmutter Olga Guse in Bremen den Kaufmann Maximilian Edmund Schulz geheiratet hat. Daraus folgte, dass nunmehr das 27-jährige und bereits verheiratete „Kind“ Olga Gertrud nachträglich die rechtliche Stellung eines ehelichen Kindes erhält. Aus Olga Gertrud Hartmann wird also im Laufe der Jahre Olga Gertrud Guse und dann Olga Gertrud Schultz.
Was für ein Kuddelmuddel. Wer war denn nun die Mutter? War Olga Guse die Geliebte von Karl Hartmann, die zu dem Zeitpunkt die Identität seiner Ehefrau stahl? Aber wo war dann seine richtige Ehefrau? Auch die Spur des „verwaisten“ Vaters bleibt rätselhaft. Der aus Russland stammende verheiratete Arbeiter Carl Ludwig Hartmann, geboren am 29.11.1887 in Konstantinowk meldet sich erst am 6.3.1912 in Wedel Elbstraße in Wedel polizeilich an. Ein Jahr später gibt es einen Eintrag im Adressbuch, dass er in der Mühlenstraße 9 wohnt. Dann aber verläuft sich die Spur.

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